Prolog

PROLOG

Jetzt.
Nichts geschieht in dem Augenblick, wo es geschieht. Scheint erst im Nachhinein wirklich. Geformt in den Mustern der Wahrnehmung.
Jetzt, wo etwas geschieht, geschieht nichts Erkennbares. Formloser Brei aus Geräuschen, Gerüchen, Ansichten, nebeneinander, ohne Verbindung. Bedeutung kommt später. Verfälscht das einst Pure, verändert unmerklich die Farbe, presst in vorhandene Spuren. Schmalspuren.
Was nicht passt, fliegt raus.
Wildwuchs überfordert die neuronalen Netze. Wildwuchs ein Relikt, nicht mehr eingeübt. Wildwuchs im selben Moment nicht erkennbar, scheinbar noch nicht geschehen. Aber wuchernd unter der Oberfläche, hinter der Vorderfront. Dort alles in Reihen, Stapeln, Paketen. Blitzartig sortiert, verlesen, ausgewählt.
Wildwuchs langsam, verschlungen, explodierend, hinter der Stirnsicht. Tiefer liegende Synapsen treten Unruhe los. Lebendig.
Sandfratzen, Wegrandgesichter, Buschleute, Leben überall. Rindentheater, Strandmaskeraden, Blättermasken und stummes Geraschel. Dort etwas, hier etwas, lauter oder leiser, immer zur richtigen Zeit.
Noch jemand da, der die Krähensprache versteht?
Jetzt.

Sabine Hönck, 2011

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Stummer Gesang

STUMMER GESANG

Die Vorstädte wuchern
Narzissen in Reih und Glied

bekamen Befehl zu wachsen
blühen taub ohne Nektar

Kahlschlag auf den Knicks
überlebende Stämme klammern sich
aneinander

Tinnituslerchen im Ohr
auf dem Himmelsauge blind
sind wir
ein Panoptikum verkleideter Sterne
die Angst haben
zu leuchten?

Sabine Hönck, 2018

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Dohlen am Deich

DOHLEN AM DEICH

Dohlen am Deich dicke graue Schnäbel
in aufgeplustertes Gefieder gesteckt
der Inhalt einer gelben Tonne woher auch immer
flattert im Nordwest stadteinwärts hoffentlich
im Stacheldraht an der Deichstraße eingeflochten
ein Stück Noppenfolie
Treckerspuren im aufgeweichten Grünstreifen
eine Packung Prinzenrolle im Matsch zerquetscht
Joghurtbecher und Milchkartons
der Mensch verschönert die Welt nicht
aber
im Museumscafé kunsttheoretische Debatten am Nebentisch
imposante Worthülsen sausen
mir an den Ohren vorbei autonom konzertant postmodern
selbstverständlich digital und im ganz anderen Lager virtuelle Welten
und heute ist ja alles erlaubt
ertrinkend
in der klassischen Moderne klammere ich mich
an meiner Eierlikörtorte fest
geht die Künstlerpersönlichkeit mit so viel Rückständigkeit
natürlich den Bach runter

Sabine Hönck: Montags bei Meesenburg, Unterwegstexte, 2017

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