Sterntaler im Supermarkt

STERNTALER IM SUPERMARKT

Bin gestern im Supermarkt dem Sterntaler begegnet. Es kam herein mit seiner Schürze voller Goldstücke und wollte Brot kaufen für die Mutter und die kleinen Schwestern.
Es schaute sich im Laden um und wurde ganz verwirrt. Mit nackten Füßen lief es von Regal zu Regal und fand kein Brot. Überall nur Schachteln, Plastikflaschen, Blechdosen oder Plastiktüten.
Es fand kein Brot und fing an zu weinen.
Als ich ihm das Brotregal zeigte, schüttelte es heftig den Kopf. Ich überredete es schließlich, eine der Tüten zu nehmen und musste ihm versprechen, dass ganz bestimmt Brot drin wäre, auch wenn man es nicht riechen könne. Vielleicht zuhause, nach dem Öffnen.
– Nimm mal zwei mit, riet ich ihm.
Ich legte die Pakete auf die glänzenden Taler in seiner Schürze, die es mit beiden Händen festhalten musste, so schwer und voll war sie. Zeigte ihm noch den Weg zur Kasse und fuhr mit meinen Einkäufen fort.

Von der Kasse erschallte kurz darauf Getöse, gefolgt von lautem Geschrei. Ich eilte schnell hin, um nachzusehen, was geschehen war.
Auf dem Band lag der ganze Haufen Gold.
Das Sterntalerchen hatte einfach alles darauf geschüttet, und die Kassiererin fing ein großes Lamento an:
– Was fällt Ihnen ein? Was ist das für ein Unrat hier? Räumen Sie das sofort weg! Erschrocken schaute das Mädchen die Frau an und stammelte:
– Aber . . . ich dachte . . . für das Brot . . .
– Für das Brot bekomme ich zweisiebzig, und das hier, – sie machte eine verächtliche Geste zu dem Haufen Goldstücke, – da haben Sie sich wohl . . . was soll das denn?
Sterntalers Augen füllten sich wieder mit Tränen. Daher bezahlte ich schnell seine Brottüten, schnappte mir einen Pappkarton und schaufelte die Goldstücke hinein. Ich beeilte mich. Hinter uns hatte sich schon eine Schlange gebildet und die Leute fingen an, zu murren.
Als wir draußen standen, wusste ich nicht, wie ich dem Mädchen das alles erklären sollte und bot ihm an, den Karton zu ihm nach Hause zu bringen. Dabei zeigte ich mit der Hand auf mein Auto.
Kaum hatte ich mich wieder umgedreht, war Sterntaler verschwunden und auch der Karton war weg.

Völlig neben der Kappe fuhr ich falsch herum in eine Einbahnstraße. Froh, überhaupt wieder nach Hause zu finden. Machte mir Sorgen um meinen Geisteszustand.
Zwei Tage später wusch ich mein Auto und säuberte auch den Innenraum. Da blinkte etwas unter dem Beifahrersitz. Ich holte ein Goldstück hervor und musste mich einen Moment an die Autotür lehnen und tief durchatmen.

Sabine Hönck Keiner mehr da, der die Krähensprache versteht? – 2019

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Sonst ist es still heute

SONST IST ES STILL HEUTE

Aufstehen und Tee kochen, einen Traum aufschreiben, dem Baum lauschen, lautloser Gesang. Der Müllwagen rumpelt heran, es stinkt, der Regen dampft es herauf.
Sonst ist es still heute. Der Sommer verabschiedet sich.
Kühler werdende Abende, an denen sich rückreisende Vogelschwärme formieren. Schnatternde Wolken von Nonnengänsen stieben über den Deich ins Vorland.
Am Fenster sitzen und auf den Sturm warten, der die Spinnenweben schüttelt. Dann wieder Stille. Aufgewärmte Mauern und Ecken, in denen sich noch Reste des Sommers verstecken.
Ein Wolkengebirge drückt die Sonne in den Horizont.
Der plötzliche Schatten aus blaugrauer Dämmerung fällt ohne Vorwarnung auf nassen Asphalt. Die Lichter vorbeifahrender Autos spiegeln sich darin. Glänzend und kühl und ohne mit der Wimper zu zucken beendet ein heftiger Herbstregen die letzten warmen Tage.
Aufstehen und Tee kochen, dem Baum lauschen, der Müllwagen rumpelt heran, dann wieder Stille.
Die Kerze flackert und immer wieder dieses Erstaunen.
Septemberluft wie Glas.
In der die Stimmen klirren, als hätte sie jemand fortgeworfen wie Kieselsteine. So weit, von so weit her. Nur ein fernes Klingen in den kürzer werdenden Schattentagen.
Aus dem Fenster schauen und: das Leben ist so und nicht anders, denken.
Den Herd ausstellen, auf dem eine Suppe blubbert.
Der Regen macht Pause. Das war ein Regensommer. Das Laub welkt früh. Der Earth Overshoot Day, voriges Jahr noch im September, war dieses Jahr bereits im August.
Nachts schon Socken anziehen? Nein. Aber Linsen. Linsen sind dran.

Mit Möhren, Kartoffeln und Lauch. Linsen erzeugen Wärme im Bauch. Und dieses Gefühl, dass es eigentlich genügt, am Leben zu sein.
Zwei Beine, zwei Hände, ein beweglicher Körper, die Meerluft atmen, die Haare ausschütteln. Rio Reiser hören (kennt den noch jemand?) und: Schade, dass er tot ist, denken.
Wenn er singt: wann wenn nicht jetzt, wer wenn nicht wir, und es ist nicht egal, auf welcher Seite du stehst, und ich kann’s nicht mit ansehen, wie alles den Bach runtergeht.
Mit seiner quäkig krächzenden Jungenstimme.
Schade, dass so einer schon tot ist.
Ich muss raus. Regen lugt wieder hinter der nächsten dicken Wolke hervor. Und es genügt doch am Leben zu sein. Da muss nichts Besonderes passieren.

Aufstehen und Tee kochen, einen Traum aufschreiben, dem Baum lauschen, lautloser Gesang. Der Müllwagen rumpelt heran, es stinkt, der Regen dampft es herauf. Sonst ist es still heute.

Sabine Hönck: Montags bei Meesenburg, Unterwegstexte, 2017

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Septembermorgen

SEPTEMBERMORGEN

drei Bohnen hängen noch
die Endivie steht gut
im Teich Ruhe keine Fontänen
der Himmel bedeckt
ein kleiner roter Fisch wedelt mit der Schwanzflosse
im brackigen Wasser spiegelt sich dennoch
die Gemeine Feldsonnenblume
der Kastanie war dieser Sommer zu trocken
Südwest weht Motorengeräusche herüber
ein Sonntagsbass aus dem Autoradio
nebenan
Luft riecht nach Regen

Sabine Hönck, Nachtblinde Gespräche . . . , 2013

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die Erfundene

DIE ERFUNDENE

Sie ist durchsichtig, zart. Hat erst ein Ohr, sechs Finger und einen halben Mund. An den Augen fehlen die Wimpern und der Bauch ist noch hohl.
Allmählich kommt sie zu Kräften, zieht ihre langen Stiefel an, klappert mit den Castagnetten und sinkt wieder ermattet zu Boden.
Als ihr eine lange schwarze Mähne wächst, und der Mund zinnoberrot über dem Spitzenkleid leuchtet, beginnt sie zu tanzen.
Erst auf einem Fuß, bald auf zweien, schlängelnde Arme, glutvolle lang bewimperte Blicke, sie wird dreidimensional. Man erkennt es am Applaus.
In der Mitte fehlt noch etwas.
Händeringend, sie versteckt es geschickt hinter Tanzbewegungen, signalisiert sie dem Erzähler, der lustlos in der Ecke sitzt, dass er zu Ende bringen soll, was er in einem leichtsinnigen Moment begonnen hat.
Er raucht erstmal eine Zigarette, bestellt sich ein Bier und schaut etwas hilflos zu ihr hinüber. Was will sie denn?
Sie hat doch alles.
Zwei Beine, zwei Arme, Augen, Nase, Mund. Alles vom feinsten. Ein wunderbares Kleid und tanzen kann sie inzwischen, tanzen kann sie – das Publikum vergisst alles um sich herum.
Aber das scheint ihr nicht zu genügen.
Eine fahle Blässe zieht in ihr Gesicht,  die Schritte werden holprig,  sie sackt in sich zusammen. Reißt den Mund auf groteske Weise auf, formt lautlos Worte, die keiner versteht.
Da gibt er ihr Stimme, endlich scheint er begriffen zu haben. Aber es kommt nichts Verständliches heraus, nur ein Gurgeln, Gestammel, unartikuliertes Geschrei.
Sie ist so schön, – und sehr verzweifelt, man sieht es in ihren Augen.
Der Mann in der Ecke trinkt noch ein Bier, räuspert sich, immer wieder, er weiß wirklich nicht weiter.
Sie hat doch alles.
Wie sie wieder durchsichtig wird, immer blasser, fängt das Publikum zu murren an, mit den Füßen zu scharren und am Ende ertönt lautes:
– Buh! Buh! Ohrenbetäubendes Pfeifen.
Sie jagen den Mann auf die Strasse, es gelingt ihm nur knapp, vor ihren wütenden Fäusten zu fliehen.

Sabine Hönck, Keiner mehr da, der die Krähensprache versteht?, 2023

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