Flüstern

FLÜSTERN

Wir lebten in Schachteln. Manche einzeln, die meisten übereinander gestapelt, viele sogar turmhoch. Mit hinein geschnittenen Löchern zum hinaus Schauen.
Hübsch bunt waren die Schachteln, rosa, gelb oder blau. Ein lichtes Blau. Einige der Bewohner hatten die Mühe nicht gescheut, Geranien in üppigem Orange und Rottönen unter die Fenster zu hängen.
Nachts hörten wir die anderen flüstern, nebenan in den Kästen.
Von Ausbruchsplänen, dem Traum von Freiheit und der gleichzeitigen Angst davor flüsterten sie.
Wir hörten sie mit leisen, brüchigen Stimmen über Sägen, Feilen, Fallschirme und allerlei Gerät, um in der Wildnis zu überleben, fachsimpeln. Stundenlang ging das. In den Nächten.
Sie raubten sich den Schlaf dafür, nur um am Ende, der Morgen graute schon mager durch die Samtspitzenvorhänge, müde abzuwinken, in diesem von Enttäuschung zerknitterten Ton zu murmeln:
– Für uns ist es eh zu spät! Und in einen kurzen, rastlosen Schlaf zu sinken.
Am Tag trafen wir uns wie immer auf der Straße, grüßten knapp und verlegen oder auch besonders überschwänglich. Wer wusste schon, was die anderen wussten?
Schnell wurde eine der Haustüren frisch gestrichen. Vielleicht in einem besonders allerliebsten Rosa mit violetten Blütengirlanden rund um den Spion, den alle von uns immer benutzten, bevor wir die Tür öffneten.
Egal, ob jemand erwartet wurde oder nicht.

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Sabine Hönck: Keiner mehr da, der die Krähensprache versteht, 2007

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Sterntaler im Supermarkt

STERNTALER IM SUPERMARKT

Bin gestern im Supermarkt dem Sterntaler begegnet. Es kam herein mit seiner Schürze voller Goldstücke und wollte Brot kaufen für die Mutter und die kleinen Schwestern.
Es schaute sich im Laden um und wurde ganz verwirrt. Mit nackten Füßen lief es von Regal zu Regal und fand kein Brot. Überall nur Schachteln, Plastikflaschen, Blechdosen oder Plastiktüten.
Es fand kein Brot und fing an zu weinen.
Als ich ihm das Brotregal zeigte, schüttelte es heftig den Kopf. Ich überredete es schließlich, eine der Tüten zu nehmen und musste ihm versprechen, dass ganz bestimmt Brot drin wäre, auch wenn man es nicht riechen könne. Vielleicht zuhause, nach dem Öffnen.
– Nimm mal zwei mit, riet ich ihm.
Ich legte die Pakete auf die glänzenden Taler in seiner Schürze, die es mit beiden Händen festhalten musste, so schwer und voll war sie. Zeigte ihm noch den Weg zur Kasse und fuhr mit meinen Einkäufen fort.

Von der Kasse erschallte kurz darauf Getöse, gefolgt von lautem Geschrei. Ich eilte schnell hin, um nachzusehen, was geschehen war.
Auf dem Band lag der ganze Haufen Gold.
Das Sterntalerchen hatte einfach alles darauf geschüttet, und die Kassiererin fing ein großes Lamento an:
– Was fällt Ihnen ein? Was ist das für ein Unrat hier? Räumen Sie das sofort weg! Erschrocken schaute das Mädchen die Frau an und stammelte:
– Aber . . . ich dachte . . . für das Brot . . .
– Für das Brot bekomme ich zweisiebzig, und das hier, – sie machte eine verächtliche Geste zu dem Haufen Goldstücke, – da haben Sie sich wohl . . . was soll das denn?
Sterntalers Augen füllten sich wieder mit Tränen. Daher bezahlte ich schnell seine Brottüten, schnappte mir einen Pappkarton und schaufelte die Goldstücke hinein. Ich beeilte mich. Hinter uns hatte sich schon eine Schlange gebildet und die Leute fingen an, zu murren.
Als wir draußen standen, wusste ich nicht, wie ich dem Mädchen das alles erklären sollte und bot ihm an, den Karton zu ihm nach Hause zu bringen. Dabei zeigte ich mit der Hand auf mein Auto.
Kaum hatte ich mich wieder umgedreht, war Sterntaler verschwunden und auch der Karton war weg.

Völlig neben der Kappe fuhr ich falsch herum in eine Einbahnstraße. Froh, überhaupt wieder nach Hause zu finden. Machte mir Sorgen um meinen Geisteszustand.
Zwei Tage später wusch ich mein Auto und säuberte auch den Innenraum. Da blinkte etwas unter dem Beifahrersitz. Ich holte ein Goldstück hervor und musste mich einen Moment an die Autotür lehnen und tief durchatmen.

Sabine Hönck Keiner mehr da, der die Krähensprache versteht? – 2019

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die Erfundene

DIE ERFUNDENE

Sie ist durchsichtig, zart. Hat erst ein Ohr, sechs Finger und einen halben Mund. An den Augen fehlen die Wimpern und der Bauch ist noch hohl.
Allmählich kommt sie zu Kräften, zieht ihre langen Stiefel an, klappert mit den Castagnetten und sinkt wieder ermattet zu Boden.
Als ihr eine lange schwarze Mähne wächst, und der Mund zinnoberrot über dem Spitzenkleid leuchtet, beginnt sie zu tanzen.
Erst auf einem Fuß, bald auf zweien, schlängelnde Arme, glutvolle lang bewimperte Blicke, sie wird dreidimensional. Man erkennt es am Applaus.
In der Mitte fehlt noch etwas.
Händeringend, sie versteckt es geschickt hinter Tanzbewegungen, signalisiert sie dem Erzähler, der lustlos in der Ecke sitzt, dass er zu Ende bringen soll, was er in einem leichtsinnigen Moment begonnen hat.
Er raucht erstmal eine Zigarette, bestellt sich ein Bier und schaut etwas hilflos zu ihr hinüber. Was will sie denn?
Sie hat doch alles.
Zwei Beine, zwei Arme, Augen, Nase, Mund. Alles vom feinsten. Ein wunderbares Kleid und tanzen kann sie inzwischen, tanzen kann sie – das Publikum vergisst alles um sich herum.
Aber das scheint ihr nicht zu genügen.
Eine fahle Blässe zieht in ihr Gesicht,  die Schritte werden holprig,  sie sackt in sich zusammen. Reißt den Mund auf groteske Weise auf, formt lautlos Worte, die keiner versteht.
Da gibt er ihr Stimme, endlich scheint er begriffen zu haben. Aber es kommt nichts Verständliches heraus, nur ein Gurgeln, Gestammel, unartikuliertes Geschrei.
Sie ist so schön, – und sehr verzweifelt, man sieht es in ihren Augen.
Der Mann in der Ecke trinkt noch ein Bier, räuspert sich, immer wieder, er weiß wirklich nicht weiter.
Sie hat doch alles.
Wie sie wieder durchsichtig wird, immer blasser, fängt das Publikum zu murren an, mit den Füßen zu scharren und am Ende ertönt lautes:
– Buh! Buh! Ohrenbetäubendes Pfeifen.
Sie jagen den Mann auf die Strasse, es gelingt ihm nur knapp, vor ihren wütenden Fäusten zu fliehen.

Sabine Hönck, Keiner mehr da, der die Krähensprache versteht?, 2023

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Aschenputtel später

Aschenputtel später

Nun hocke ich hier schon seit über zehn Jahren hinterm Ofen in der Asche, meine Haare sind stumpf und grau geworden und die Haut spröde. Manchmal höre ich ein meckerndes Lachen, wie von einer uralten, halb vertrockneten Ziege ausgestoßen und begreife mit Entsetzen, dass es meiner Kehle entfährt.
Die Gänge zum Grab und den Tauben sind immer seltener geworden in den letzten Jahren. Ich hatte die ewig gleichen Glitzerkleider, die  Bälle und die vor Schüchternheit und unterdrücktem Begehren schwitzenden Prinzen allmählich satt.
Wie soll mich so einer retten?
Ich ging zum Schluss barfuss hin mit den Schuhen in der Hand und nahm mich in Acht auf der letzten Treppenstufe. Sie sind so leicht auszutricksen.
Und ich habe zumindest das Tanzen genossen, ohne das lästige immer gleiche Nachspiel mit den Schuhen über mich ergehen lassen zu müssen.
Doch irgendwie erkenne ich mich selbst nicht mehr.
Morgens ächzen meine Knochen, wenn ich mich von meinem Lumpenlager unter der Treppe erhebe und in die Küche schlurfe, um dem Koch zuvorzukommen und das Wasser aufzusetzen. Es ist schon der dritte, seit ich hier bin.
Hat der erste noch mit mir herumgemeckert und mir Beine gemacht, so wurden die anderen beiden allmählich freundlicher und der Neue spricht manchmal in so einem schäkernden Ton mit mir, als wäre ich die alte Geiß aus dem Wald.
Sei’s drum, mir soll es recht sein.
Ein Bad würde mich sicher um Jahre verjüngen und ihm vielleicht die Augen aus dem Kopf fallen lassen. Besser ist es so. Linsen sortiere ich schon lange nicht mehr.
Die Stiefmutter hat gemerkt, dass ich mich nicht um die Bälle reiße, und ihre albernen Töchter sind längst unter Dach und Fach. Wenn’s auch keine Prinzen sind, na ja. Ich beneide sie nicht.
Meine Zeit hier ist jetzt abgelaufen, das spüre ich deutlich.
Morgen gehe ich ein letztes Mal ans Grab und rufe die Tauben. Hoffentlich sind sie nicht allzu verärgert über die Seltenheit meiner Besuche und noch bereit, mir einen letzten Wunsch zu erfüllen.
Ich werde um ein heißes Bad bitten und ein Stück Seife für meine Haare. Um einen sauberen Mantel und eine schwarze Katze.
Und dann werde ich mich freundlich von dem jungen, pausbäckigen Koch verabschieden und seinen erstaunten Gesichtsausdruck genießen. Meine Haare leuchten silbern unter der Asche und meine Augen werden strahlen, weil die Zeit, zu gehen, nun endlich gekommen ist.
Tief in den Wald werde ich wandern, bis zu der Lichtung und der Hütte, vor der eine Alte auf einem Bein im Kreis tanzt und sich freut, dass ich endlich komme.
Auf dem Dach wird der Rabe sitzen und ungeduldig die Ankunft der Tauben erwarten, die mir gefolgt sind.
Ein Fest wird es geben, mit Gesang und Gelächter bis tief in die mondhelle Nacht.

Sabine Hönck, Keiner mehr da, der die Krähensprache versteht, 2023

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