DIE ERFUNDENE
Sie ist durchsichtig, zart. Hat erst ein Ohr, sechs Finger und einen halben Mund. An den Augen fehlen die Wimpern und der Bauch ist noch hohl.
Allmählich kommt sie zu Kräften, zieht ihre langen Stiefel an, klappert mit den Castagnetten und sinkt wieder ermattet zu Boden.
Als ihr eine lange schwarze Mähne wächst, und der Mund zinnoberrot über dem Spitzenkleid leuchtet, beginnt sie zu tanzen.
Erst auf einem Fuß, bald auf zweien, schlängelnde Arme, glutvolle lang bewimperte Blicke, sie wird dreidimensional. Man erkennt es am Applaus.
In der Mitte fehlt noch etwas.
Händeringend, sie versteckt es geschickt hinter Tanzbewegungen, signalisiert sie dem Erzähler, der lustlos in der Ecke sitzt, dass er zu Ende bringen soll, was er in einem leichtsinnigen Moment begonnen hat.
Er raucht erstmal eine Zigarette, bestellt sich ein Bier und schaut etwas hilflos zu ihr hinüber. Was will sie denn?
Sie hat doch alles.
Zwei Beine, zwei Arme, Augen, Nase, Mund. Alles vom feinsten. Ein wunderbares Kleid und tanzen kann sie inzwischen, tanzen kann sie – das Publikum vergisst alles um sich herum.
Aber das scheint ihr nicht zu genügen.
Eine fahle Blässe zieht in ihr Gesicht, die Schritte werden holprig, sie sackt in sich zusammen. Reißt den Mund auf groteske Weise auf, formt lautlos Worte, die keiner versteht.
Da gibt er ihr Stimme, endlich scheint er begriffen zu haben. Aber es kommt nichts Verständliches heraus, nur ein Gurgeln, Gestammel, unartikuliertes Geschrei.
Sie ist so schön, – und sehr verzweifelt, man sieht es in ihren Augen.
Der Mann in der Ecke trinkt noch ein Bier, räuspert sich, immer wieder, er weiß wirklich nicht weiter.
Sie hat doch alles.
Wie sie wieder durchsichtig wird, immer blasser, fängt das Publikum zu murren an, mit den Füßen zu scharren und am Ende ertönt lautes:
– Buh! Buh! Ohrenbetäubendes Pfeifen.
Sie jagen den Mann auf die Strasse, es gelingt ihm nur knapp, vor ihren wütenden Fäusten zu fliehen.
Sabine Hönck, Keiner mehr da, der die Krähensprache versteht?, 2023