Flüstern
- Beitrags-Autor:Sabine Hönck
- Beitrag veröffentlicht:15. Oktober 2025
- Beitrags-Kategorie:Krähensprache
FLÜSTERN
Wir lebten in Schachteln. Manche einzeln, die meisten übereinander gestapelt, viele sogar turmhoch. Mit hinein geschnittenen Löchern zum hinaus Schauen.
Hübsch bunt waren die Schachteln, rosa, gelb oder blau. Ein lichtes Blau. Einige der Bewohner hatten die Mühe nicht gescheut, Geranien in üppigem Orange und Rottönen unter die Fenster zu hängen.
Nachts hörten wir die anderen flüstern, nebenan in den Kästen.
Von Ausbruchsplänen, dem Traum von Freiheit und der gleichzeitigen Angst davor flüsterten sie.
Wir hörten sie mit leisen, brüchigen Stimmen über Sägen, Feilen, Fallschirme und allerlei Gerät, um in der Wildnis zu überleben, fachsimpeln. Stundenlang ging das. In den Nächten.
Sie raubten sich den Schlaf dafür, nur um am Ende, der Morgen graute schon mager durch die Samtspitzenvorhänge, müde abzuwinken, in diesem von Enttäuschung zerknitterten Ton zu murmeln:
– Für uns ist es eh zu spät! Und in einen kurzen, rastlosen Schlaf zu sinken.
Am Tag trafen wir uns wie immer auf der Straße, grüßten knapp und verlegen oder auch besonders überschwänglich. Wer wusste schon, was die anderen wussten?
Schnell wurde eine der Haustüren frisch gestrichen. Vielleicht in einem besonders allerliebsten Rosa mit violetten Blütengirlanden rund um den Spion, den alle von uns immer benutzten, bevor wir die Tür öffneten.
Egal, ob jemand erwartet wurde oder nicht.
So wurden unsere Schachteln immer hübscher und bunter.
Aber die Träume, die Träume von der Fr . . . . , ein fast schon verpöntes Wort, frech und schmutzig und leer geschrien, diese Träume raubten uns dennoch weiter den Schlaf.
Das Geflüster, das Pläneschmieden ging weiter und führte doch wieder nur ins Einkaufsparadies am nächsten Morgen.
Einen neuen Teppich kaufen für die Dielen oder die Wand, dass das Flüstern vielleicht endlich nicht mehr zu den Nachbarn dränge.
Man sein Gesicht behielte und den Kopf aufrecht und die Augen ohne Sonnenbrille.
Leise hinter vorgehaltener Hand seufzend:
– Die Jungen, ja, die Jungen. Leise hinter vorgehaltener Hand.
Die Jungen würden es wahr machen, all das Geflüster.
Aber kaum einer ahnte doch etwas von dem, was die Jungen flüsterten. In denselben Nächten, denselben Kästen und Schachteln.
Schon etwas unter dem Herzen trugen, für das eine Schachtel benötigt wurde und ein Teppich und ein Spion und ein Samtspitzenvorhang.
Und vielleicht ein kleiner Zimmerspringbrunnen.
Und die Wildnis rückte in immer weitere Ferne und selbst vom Feuer wusste doch schon niemand mehr. Nichts von Jagen und Pflanzen, nichts von dem stummen Gesang hinter den Dingen, nichts von Getreide, Biber oder Feldlerche. Wir wussten schon bald nicht mehr, wovon wir nachts flüstern sollten, Wange an Wange.
Die Werkzeuge, der Fallschirm, alles war ganz fremd geworden. Aber flüstern mussten wir, manche jedenfalls, nicht die wenigsten, auch wenn wir kaum noch verstanden, wovon wir flüsterten, worüber.
Außer von der Fr . . . . , die aber bald keiner mehr beim Namen nannte.
Sabine Hönck: Keiner mehr da, der die Krähensprache versteht, 2007
Wer sagt denn
- Beitrags-Autor:Sabine Hönck
- Beitrag veröffentlicht:3. Oktober 2025
- Beitrags-Kategorie:Gedichte/Nachtblinde Gespräche
WER SAGT DENN
dass du glücklich bist
dein Herz
dir selbst gehört
auch in der Nacht
leise am Rand der Welt
und ob es zu dir
spricht während du
irgendwo
allein unter Fremden
wartest und ob
du ihm lauschen kannst
mit Ohren so fein
von all dem Himmel
unter dem du schon gesegelt
und von all der Erde
auf der du schon gelegen
horchend auf ihren
blauen Ton
in den frühen Stunden den ersten
Frostnächten
den Berg hast wispern hören von
den alten Geschichten
kuriosen Legenden
die in seiner Tiefe ruhen und
die er nur denen erzählt
die kommen
allein
um sie zu hören aufzusaugen
mit diesem Hunger
nach den glorreichen Helden
der alten Erde
unter rissiger Lava begraben
gesunken Jahrtausende
immer tiefer
zwischen das heisere Geflüster
alter Frauen
die noch denken wie ein
Berg
derweil
du glaubst
das Glück käme wie
es geträumt
Sabine Hönck, Nachtblinde Gespräche. . , 2008
Sterntaler im Supermarkt
- Beitrags-Autor:Sabine Hönck
- Beitrag veröffentlicht:23. September 2025
- Beitrags-Kategorie:Krähensprache
STERNTALER IM SUPERMARKT
Bin gestern im Supermarkt dem Sterntaler begegnet. Es kam herein mit seiner Schürze voller Goldstücke und wollte Brot kaufen für die Mutter und die kleinen Schwestern.
Es schaute sich im Laden um und wurde ganz verwirrt. Mit nackten Füßen lief es von Regal zu Regal und fand kein Brot. Überall nur Schachteln, Plastikflaschen, Blechdosen oder Plastiktüten.
Es fand kein Brot und fing an zu weinen.
Als ich ihm das Brotregal zeigte, schüttelte es heftig den Kopf. Ich überredete es schließlich, eine der Tüten zu nehmen und musste ihm versprechen, dass ganz bestimmt Brot drin wäre, auch wenn man es nicht riechen könne. Vielleicht zuhause, nach dem Öffnen.
– Nimm mal zwei mit, riet ich ihm.
Ich legte die Pakete auf die glänzenden Taler in seiner Schürze, die es mit beiden Händen festhalten musste, so schwer und voll war sie. Zeigte ihm noch den Weg zur Kasse und fuhr mit meinen Einkäufen fort.
Von der Kasse erschallte kurz darauf Getöse, gefolgt von lautem Geschrei. Ich eilte schnell hin, um nachzusehen, was geschehen war.
Auf dem Band lag der ganze Haufen Gold.
Das Sterntalerchen hatte einfach alles darauf geschüttet, und die Kassiererin fing ein großes Lamento an:
– Was fällt Ihnen ein? Was ist das für ein Unrat hier? Räumen Sie das sofort weg! Erschrocken schaute das Mädchen die Frau an und stammelte:
– Aber . . . ich dachte . . . für das Brot . . .
– Für das Brot bekomme ich zweisiebzig, und das hier, – sie machte eine verächtliche Geste zu dem Haufen Goldstücke, – da haben Sie sich wohl . . . was soll das denn?
Sterntalers Augen füllten sich wieder mit Tränen. Daher bezahlte ich schnell seine Brottüten, schnappte mir einen Pappkarton und schaufelte die Goldstücke hinein. Ich beeilte mich. Hinter uns hatte sich schon eine Schlange gebildet und die Leute fingen an, zu murren.
Als wir draußen standen, wusste ich nicht, wie ich dem Mädchen das alles erklären sollte und bot ihm an, den Karton zu ihm nach Hause zu bringen. Dabei zeigte ich mit der Hand auf mein Auto.
Kaum hatte ich mich wieder umgedreht, war Sterntaler verschwunden und auch der Karton war weg.
Völlig neben der Kappe fuhr ich falsch herum in eine Einbahnstraße. Froh, überhaupt wieder nach Hause zu finden. Machte mir Sorgen um meinen Geisteszustand.
Zwei Tage später wusch ich mein Auto und säuberte auch den Innenraum. Da blinkte etwas unter dem Beifahrersitz. Ich holte ein Goldstück hervor und musste mich einen Moment an die Autotür lehnen und tief durchatmen.
Sabine Hönck Keiner mehr da, der die Krähensprache versteht? – 2019
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