Sonst ist es still heute

SONST IST ES STILL HEUTE

Aufstehen und Tee kochen, einen Traum aufschreiben, dem Baum lauschen, lautloser Gesang. Der Müllwagen rumpelt heran, es stinkt, der Regen dampft es herauf.
Sonst ist es still heute. Der Sommer verabschiedet sich.
Kühler werdende Abende, an denen sich rückreisende Vogelschwärme formieren. Schnatternde Wolken von Nonnengänsen stieben über den Deich ins Vorland.
Am Fenster sitzen und auf den Sturm warten, der die Spinnenweben schüttelt. Dann wieder Stille. Aufgewärmte Mauern und Ecken, in denen sich noch Reste des Sommers verstecken.
Ein Wolkengebirge drückt die Sonne in den Horizont.
Der plötzliche Schatten aus blaugrauer Dämmerung fällt ohne Vorwarnung auf nassen Asphalt. Die Lichter vorbeifahrender Autos spiegeln sich darin. Glänzend und kühl und ohne mit der Wimper zu zucken beendet ein heftiger Herbstregen die letzten warmen Tage.
Aufstehen und Tee kochen, dem Baum lauschen, der Müllwagen rumpelt heran, dann wieder Stille.
Die Kerze flackert und immer wieder dieses Erstaunen.
Septemberluft wie Glas.
In der die Stimmen klirren, als hätte sie jemand fortgeworfen wie Kieselsteine. So weit, von so weit her. Nur ein fernes Klingen in den kürzer werdenden Schattentagen.
Aus dem Fenster schauen und: das Leben ist so und nicht anders, denken.
Den Herd ausstellen, auf dem eine Suppe blubbert.
Der Regen macht Pause. Das war ein Regensommer. Das Laub welkt früh. Der Earth Overshoot Day, voriges Jahr noch im September, war dieses Jahr bereits im August.
Nachts schon Socken anziehen? Nein. Aber Linsen. Linsen sind dran.

Mit Möhren, Kartoffeln und Lauch. Linsen erzeugen Wärme im Bauch. Und dieses Gefühl, dass es eigentlich genügt, am Leben zu sein.
Zwei Beine, zwei Hände, ein beweglicher Körper, die Meerluft atmen, die Haare ausschütteln. Rio Reiser hören (kennt den noch jemand?) und: Schade, dass er tot ist, denken.
Wenn er singt: wann wenn nicht jetzt, wer wenn nicht wir, und es ist nicht egal, auf welcher Seite du stehst, und ich kann’s nicht mit ansehen, wie alles den Bach runtergeht.
Mit seiner quäkig krächzenden Jungenstimme.
Schade, dass so einer schon tot ist.
Ich muss raus. Regen lugt wieder hinter der nächsten dicken Wolke hervor. Und es genügt doch am Leben zu sein. Da muss nichts Besonderes passieren.

Aufstehen und Tee kochen, einen Traum aufschreiben, dem Baum lauschen, lautloser Gesang. Der Müllwagen rumpelt heran, es stinkt, der Regen dampft es herauf. Sonst ist es still heute.

Sabine Hönck: Montags bei Meesenburg, Unterwegstexte, 2017

WeiterlesenSonst ist es still heute

Septembermorgen

SEPTEMBERMORGEN

drei Bohnen hängen noch
die Endivie steht gut
im Teich Ruhe keine Fontänen
der Himmel bedeckt
ein kleiner roter Fisch wedelt mit der Schwanzflosse
im brackigen Wasser spiegelt sich dennoch
die Gemeine Feldsonnenblume
der Kastanie war dieser Sommer zu trocken
Südwest weht Motorengeräusche herüber
ein Sonntagsbass aus dem Autoradio
nebenan
Luft riecht nach Regen

Sabine Hönck, Nachtblinde Gespräche . . . , 2013

WeiterlesenSeptembermorgen

die Erfundene

DIE ERFUNDENE

Sie ist durchsichtig, zart. Hat erst ein Ohr, sechs Finger und einen halben Mund. An den Augen fehlen die Wimpern und der Bauch ist noch hohl.
Allmählich kommt sie zu Kräften, zieht ihre langen Stiefel an, klappert mit den Castagnetten und sinkt wieder ermattet zu Boden.
Als ihr eine lange schwarze Mähne wächst, und der Mund zinnoberrot über dem Spitzenkleid leuchtet, beginnt sie zu tanzen.
Erst auf einem Fuß, bald auf zweien, schlängelnde Arme, glutvolle lang bewimperte Blicke, sie wird dreidimensional. Man erkennt es am Applaus.
In der Mitte fehlt noch etwas.
Händeringend, sie versteckt es geschickt hinter Tanzbewegungen, signalisiert sie dem Erzähler, der lustlos in der Ecke sitzt, dass er zu Ende bringen soll, was er in einem leichtsinnigen Moment begonnen hat.
Er raucht erstmal eine Zigarette, bestellt sich ein Bier und schaut etwas hilflos zu ihr hinüber. Was will sie denn?
Sie hat doch alles.
Zwei Beine, zwei Arme, Augen, Nase, Mund. Alles vom feinsten. Ein wunderbares Kleid und tanzen kann sie inzwischen, tanzen kann sie – das Publikum vergisst alles um sich herum.
Aber das scheint ihr nicht zu genügen.
Eine fahle Blässe zieht in ihr Gesicht,  die Schritte werden holprig,  sie sackt in sich zusammen. Reißt den Mund auf groteske Weise auf, formt lautlos Worte, die keiner versteht.
Da gibt er ihr Stimme, endlich scheint er begriffen zu haben. Aber es kommt nichts Verständliches heraus, nur ein Gurgeln, Gestammel, unartikuliertes Geschrei.
Sie ist so schön, – und sehr verzweifelt, man sieht es in ihren Augen.
Der Mann in der Ecke trinkt noch ein Bier, räuspert sich, immer wieder, er weiß wirklich nicht weiter.
Sie hat doch alles.
Wie sie wieder durchsichtig wird, immer blasser, fängt das Publikum zu murren an, mit den Füßen zu scharren und am Ende ertönt lautes:
– Buh! Buh! Ohrenbetäubendes Pfeifen.
Sie jagen den Mann auf die Strasse, es gelingt ihm nur knapp, vor ihren wütenden Fäusten zu fliehen.

Sabine Hönck, Keiner mehr da, der die Krähensprache versteht?, 2023

Weiterlesendie Erfundene

Schiff

SCHIFF

An
kühlen schattigen Tagen
Geliebter
segeln wir in unserem Haus
aus Blättern
hinaus aufs offene Meer
mit dem Wind

Sabine Hönck, 2005

WeiterlesenSchiff