FLÜSTERN
Wir lebten in Schachteln. Manche einzeln, die meisten übereinander gestapelt, viele sogar turmhoch. Mit hinein geschnittenen Löchern zum hinaus Schauen.
Hübsch bunt waren die Schachteln, rosa, gelb oder blau. Ein lichtes Blau. Einige der Bewohner hatten die Mühe nicht gescheut, Geranien in üppigem Orange und Rottönen unter die Fenster zu hängen.
Nachts hörten wir die anderen flüstern, nebenan in den Kästen.
Von Ausbruchsplänen, dem Traum von Freiheit und der gleichzeitigen Angst davor flüsterten sie.
Wir hörten sie mit leisen, brüchigen Stimmen über Sägen, Feilen, Fallschirme und allerlei Gerät, um in der Wildnis zu überleben, fachsimpeln. Stundenlang ging das. In den Nächten.
Sie raubten sich den Schlaf dafür, nur um am Ende, der Morgen graute schon mager durch die Samtspitzenvorhänge, müde abzuwinken, in diesem von Enttäuschung zerknitterten Ton zu murmeln:
– Für uns ist es eh zu spät! Und in einen kurzen, rastlosen Schlaf zu sinken.
Am Tag trafen wir uns wie immer auf der Straße, grüßten knapp und verlegen oder auch besonders überschwänglich. Wer wusste schon, was die anderen wussten?
Schnell wurde eine der Haustüren frisch gestrichen. Vielleicht in einem besonders allerliebsten Rosa mit violetten Blütengirlanden rund um den Spion, den alle von uns immer benutzten, bevor wir die Tür öffneten.
Egal, ob jemand erwartet wurde oder nicht.
So wurden unsere Schachteln immer hübscher und bunter.
Aber die Träume, die Träume von der Fr . . . . , ein fast schon verpöntes Wort, frech und schmutzig und leer geschrien, diese Träume raubten uns dennoch weiter den Schlaf.
Das Geflüster, das Pläneschmieden ging weiter und führte doch wieder nur ins Einkaufsparadies am nächsten Morgen.
Einen neuen Teppich kaufen für die Dielen oder die Wand, dass das Flüstern vielleicht endlich nicht mehr zu den Nachbarn dränge.
Man sein Gesicht behielte und den Kopf aufrecht und die Augen ohne Sonnenbrille.
Leise hinter vorgehaltener Hand seufzend:
– Die Jungen, ja, die Jungen. Leise hinter vorgehaltener Hand.
Die Jungen würden es wahr machen, all das Geflüster.
Aber kaum einer ahnte doch etwas von dem, was die Jungen flüsterten. In denselben Nächten, denselben Kästen und Schachteln.
Schon etwas unter dem Herzen trugen, für das eine Schachtel benötigt wurde und ein Teppich und ein Spion und ein Samtspitzenvorhang.
Und vielleicht ein kleiner Zimmerspringbrunnen.
Und die Wildnis rückte in immer weitere Ferne und selbst vom Feuer wusste doch schon niemand mehr. Nichts von Jagen und Pflanzen, nichts von dem stummen Gesang hinter den Dingen, nichts von Getreide, Biber oder Feldlerche. Wir wussten schon bald nicht mehr, wovon wir nachts flüstern sollten, Wange an Wange.
Die Werkzeuge, der Fallschirm, alles war ganz fremd geworden. Aber flüstern mussten wir, manche jedenfalls, nicht die wenigsten, auch wenn wir kaum noch verstanden, wovon wir flüsterten, worüber.
Außer von der Fr . . . . , die aber bald keiner mehr beim Namen nannte.
Sabine Hönck: Keiner mehr da, der die Krähensprache versteht, 2007
